Wir haben mit Julia Latscha über Inklusion und Arbeit gesprochen. Mit ihrem Buch “Lauthals Leben” sorgte die Autorin für Aufsehen. Darin beschreibt sie den gemeinsamen Alltag mit ihrer mehrfachbehinderten Tochter Lotte Latscha und setzt sich mit der Frage auseinander, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Außerdem ist die Bildungsaktivistin im Vorstand der Spendenorganisation Stiftung Bildung tätig. 

Da Lotte Latscha außer ja und nein nicht verbal kommunizieren kann, sprachen wir mit ihrer Mutter. Sie schilderte uns ihre Einschätzungen aus Elternsicht. Julia Latscha kennt ihre Tochter sehr gut, im Laufe der Jahre hat sie gelernt, nonverbale Äußerungen wie Gestik und Mimik, Verhaltensweisen und Stimmungen zu deuten. Durch stetiges Üben, lernt Lotte Latscha gerade die Unterstütze Kommunikation mit einem Computer, den sie mit ihren Augen steuert. 

Wie geht es ihnen und ihrer Tochter zurzeit?

Gerade geht es uns gut. Schweren Herzens haben wir die Empfehlungen der Wohngruppe, in der Lotte lebt, befolgt. Wir wollten kein Risiko eingehen. Lotte darf nun übers Wochenende nach Hause kommen. Vorher haben wir uns acht Wochen lang nicht gesehen, das war sehr hart für uns beide. Dabei war Videotelefonie eine große Hilfe, über die Zeit zu kommen. Vor Corona haben wir diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Schön zu sehen war, dass Lottes Wohngruppe zu einer super Gemeinschaft geworden ist, alle sind zusammengewachsen. So konnte Einiges kompensiert werden, was woanders weggebrochen ist. 

Was lernen wir aus Corona für die Inklusion?

Schonräume, wie es Wohnheime für behinderte Menschen sind, sind Gefahrenräume, das wird durch diese Krise sehr deutlich. Dort mangelt es an Heterogenität. Vielen Menschen der vulnerablen Gruppe zusammen zu tun, macht einfach keinen Sinn. Sowieso entsprechen diese Strukturen nicht den Menschenrechten, da ohne echte Alternativen nicht von einem selbstbestimmten Leben gesprochen werden kann.

Fühlen Sie die Bedürfnisse von Lotte Latscha in der Inklusionsdebatte ausreichend abgebildet?

Nein. Menschen wie Lotte werden ganz wenig bis gar nicht gehört. Und wenn ich mich für ihre Bedürfnisse einsetze, werde ich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ich meine eigene politische Agenda durchdrücken möchte. Lotte kann sich nicht selbst in den politischen Diskurs, wie er heute geführt wird, einbringen. Da stellt sich die Frage: Wie können wir lernen auch Menschen wie Lotte zuzuhören?

Teilhabe und Anerkennung durch Erwerbsarbeit. Ein Modell für ihre Tochter?

Ich glaube nicht. Lotte denkt so nicht. Sie kann konventionellen Strukturen und Regeln nicht folgen. Es muss Raum für ihre Impulsivität gegeben sein. Also müssen sich Strukturen ändern, damit Lotte ein erfülltes (Arbeits-)Leben hat. In einer Werkstatt für behinderte Menschen würde sich Lotte total langweilen. Nur weil eine Arbeit motorisch machbar ist, heißt das nicht, dass sie den Fähigkeiten entspricht. Außerdem betrachte ich das Argument der Tagesstrukturierung in Werkstätten und Tagesförderstätten für behinderte Menschen als Augenwischerei. Eine stumpfe Strukturierung ist auch nicht gut. Besonders für Menschen wie Lotte braucht es Visionen, neue Berufsbilder müssen entwickelt werden.  (Anm. d. Red.: Zu diesem Thema erschien auch ein Artikel auf Die Neue Norm: Inklusion in der Leistungsgesellschaft – geht das überhaupt?)

Wie könnte so ein Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aussehen?

Wir haben die Vielfalt vor der Tür stehen, lassen sie aber nicht hinein. Lotte hat einen positiven Einfluss auf viele Menschen, diese Erfahrungen machen wir bei Praktika. Menschen im Dunstkreis von Lotte werden mutiger, ehrlicher, direkter, lustiger und wahrhaftiger. Nicht direkt, hauptsächlich im Laufe von mehreren Begegnungen. Offenheit und offenes Herz kommen auch noch dazu. Sie schafft Motivationsmomente und kann eine Inspirationsquelle sein. Sie kann alle bereichern. Eine schönen Idee finde ich das Arbeiten im Tandem, so kann sich gegenseitig ergänzt werden. Dies gibt es bereits bei Teilzeit-Modellen und in Führungspositionen. Lotte wird im Oktober 18 Jahre alt. Sie würde gerne eine Art Tierpflegerin werden oder im Ensemble eines Musiktheaters mitspielen. Großen Spaß hat ihr die vielfältige Zusammenarbeit im Nachbarschaftszentrum Berlin-Schöneberg gemacht.

Was wünschen Sie sich konkret von der Gesellschaft?

Der Blick muss sich verändern, wir müssen weiter weg vom defizitären Blickwinkel kommen. Warum fokussieren wir uns nicht auf Dinge, die da sind, und besondere Talente? Zurzeit sehen wir primär was nicht da ist und was nicht geht. Außerdem muss sich das Bildungssystem weiter ändern. Hier geschieht Selektion von Anfang an. Ganz grundsätzlich wünsche ich mir, dass Menschen wie Lotte dazu befähigt werden in eine lebenserfüllende Situation zu kommen.

Wie sieht Lotte Latschas Zukunft gerade aus?

Lotte wird im Sommer ausgeschult, dann stehen wir vor dem Nichts. Aber wir gehen lieber ins Nichts als in eine schlechte Struktur. Aus dieser ist es schwieriger wieder herauszukommen. Einen Platz in einer Fördergruppe haben wir abgelehnt, es war mehr als deutlich, dass sich Lotte dort nicht wohlfühlt. Lottes Schule sagte, wir sollen den Platz aus Mangel an Alternativen annehmen. Bei der Berufsorientierung fühle ich mich von der Schule alleine gelassen. Grundsätzlich werden Menschen mit mehrfacher schwerer Behinderung in Fördergruppen ungerne genommen, sie bringen einen höheren Betreuungsaufwand mit. Darüber hinaus stellte das Jugendamt die Unterstützung für Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein, mit der Begründung, ich würde das forcieren ohne zu wissen was Lotte will. Der Weg in eine Werkstatt oder Tagesförderstätte scheint vorbestimmt, aber das ist keine gute Lösung für Lotte und vor allem keine Inklusion. 

Utopisch gedacht: Wie sieht der perfekte Alltag für sie beide aus?

Lotte wohnt in einer vielfältigen Gemeinschaft, in der nicht ausschließlich Menschen mit Behinderungen präsent sind. Dort gibt es auch Assistenztiere. Lotte hat nicht den einen Arbeitsplatz, sondern viele unterschiedliche Tätigkeiten, z.B. mit ihrem Hund in Altenpflegeheime gehen. Lotte erfährt Selbstwirksamkeit. In ihrer Freizeit kann sie sich durch Musik entfalten. Vieles müsste sich im Flow entwickeln. Ich weiß, diese Ideen stehen im Gegensatz zu profitorientierter Arbeit. 

Wir danken für das Gespräch.