Es braucht Veränderungen – jetzt!
Einleitung
Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind fest in unserer Gesellschaft verankert. Das Bild, das die meisten Menschen von Behindertenwerkstätten haben, ist eines von beschützenden Orten. Orte, in denen schwerbehinderte Menschen, die keiner regulären Arbeit nachgehen können, eine sinnvolle Beschäftigung haben und dabei liebevoll begleitet und gefördert werden. Behindertenwerkstätten werden durchweg als etwas Positives und Erhaltenswertes gesehen.
Seit der Gründung der ersten Behindertenwerkstätten in den 1960ern hat sich die Gesetzeslage stark verändert und Inklusion und Barrierefreiheit sind in vielen Bereichen vorangeschritten. Auch gibt es jetzt andere berufliche Unterstützungsmöglichkeiten als vor 50 Jahren. Aber über die Jahre hat sich das System der Behindertenwerkstätten immer fester verankert. Menschen mit Behinderungen wird der Weg aus der Schule – oder einer Berufsunfähigkeit – in die Behindertenwerkstatt oft alternativlos vorgegeben. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Mehrheitsgesellschaft dieses exkludierende System weiterhin akzeptiert, und sogar für besonders gut empfindet, ist erschreckend. Wir haben untersucht, warum es so schwierig ist, am System der Behindertenwerkstätten zu rütteln. Dabei sind wir auf Abhängigkeiten in der Wirtschaft, Interessen der Wohlfahrtsverbände und des Staates sowie festgefahrene Mechanismen gestoßen, die das diskriminierende System aufrecht erhalten.
Die Gesetzeslage
Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention beschreibt das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Dieses Recht schließt die Möglichkeit ein, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird.
Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde vor elf Jahren von Deutschland ratifiziert und ist somit geltendes Recht. Behindertenwerkstätten stehen im Widerspruch zu dem damit garantierten Recht auf Arbeit. Denn die alternativlose Arbeit in WfbM ist meist nicht frei gewählt und die Beschäftigten können ihren Lebensunterhalt damit nicht bestreiten. Sie sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Im Jahr 2015 empfahl daher der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Werkstätten in der Bundesrepublik schrittweise abzuschaffen.
Zahlen und Fakten über Werkstätten für behinderte Menschen
Die Behindertenwerkstätten werden aber nicht abgeschafft, vielmehr steigt deren Anzahl sogar. Im Jahr 2018 gab es 736 Behindertenwerkstätten in Deutschland, mit insgesamt 2.884 Standorten. 2002 waren es noch 668 Werkstätten. Mittlerweile sind mehr als 300.000 Menschen mit Behinderungen in einer Werkstatt beschäftigt. Davon haben 75,5% eine sogenannte geistige Behinderung, 20,97% eine psychischen Behinderung und 3,48% eine körperliche Behinderung.
In den letzten Jahren steigt der Anteil von Beschäftigten, die eine psychische Behinderung haben und oft vom allgemeinen Arbeitsmarkt kommen. Knapp 30% der Beschäftigten sind über 50 Jahre alt. Dieser Anteil steigt ebenfalls stetig in den letzten Jahren. Die jährlichen staatlichen Kosten für einen Werkstattplatz liegen im Durchschnitt bei 16.592 Euro pro beschäftigter Person.
Die Situation der Werkstattbeschäftigten
Werkstattbeschäftigte – jene Menschen mit Behinderungen, die in den Behindertenwerkstätten arbeiten – verfügen über keinen Arbeitsvertrag oder gar Tarifvertrag. Sie verdienen weit unter dem Mindestlohn (ca. 1,35 Euro die Stunde). Da sie damit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, sind sie auf staatliche Hilfe in Form einer Grundsicherung angewiesen. Da Werkstattbeschäftigte nicht als Arbeitnehmer*innen gelten, besteht für sie lediglich ein sogenanntes Beschäftigungsverhältnis. Deswegen werden sie nicht durch die Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen-Vertretungen repräsentiert. Außerdem können die Beschäftigten keinen Betriebsrat bilden. Lediglich Werkstatträte, die in Anlehnung an Betriebsräte eingeführt wurden, können die Interessen der Beschäftigten gegenüber der Geschäftsführung vertreten. Diese sind in ihren Befugnissen allerdings stark eingeschränkt. In dieser Sonderarbeitswelt herrschen also Zustände, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht denkbar wären.
Die widersprüchlichen Aufträge der Behindertenwerkstätten
Die Behindertenwerkstätten haben zwei gesetzliche Aufträge, die sich in vielen Aspekten widersprechen. Einerseits sollen Behindertenwerkstätten Menschen mit Behinderungen individuell fördern und qualifizieren, sie beruflich rehabilitieren und sie in eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermitteln. Andererseits sind die Werkstätten dazu verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten, um zu überleben. Dieser Spagat gelingt nicht und führt zu einem Zielkonflikt – auf Kosten der Rehabilitation. Der Rehabilitationsauftrag erfordert die Bereitschaft der WfbM, ihre leistungsfähigsten Beschäftigten so schnell wie möglich wieder gehen zu lassen. Dies gefährdet aber die Wirtschaftlichkeit der Werkstatt. Wirtschaftliche Zwänge führen dazu, dass gerade die Beschäftigten, die die besten Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hätten, nicht raus vermittelt werden. Darum liegt die Vermittlungsquote von Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bundesweit seit Jahren bei weniger als 1%. Der gesetzliche Rehabilitationsauftrag wird also weit verfehlt. Dazu trägt bei, dass der allgemeine Arbeitsmarkt in vielen Dingen noch nicht inklusiv und anschlussfähig gestaltet ist und es auch hier Veränderungen und Aufklärung braucht. Vor allem liegt es aber an strukturellen Problemen des Systems der Behindertenwerkstätten selber.
Der Wirtschaftsfaktor Behindertenwerkstatt
Behindertenwerkstätten sind längst zu ökonomischen Schwergewichten geworden: Der jährliche Umsatz aller Behindertenwerkstätten in Deutschland beträgt rund 8 Milliarden Euro. Unzählige große und mittelständige Unternehmen lassen ihre Produkte in Behindertenwerkstätten produzieren oder lagern Dienstleistungen dorthin aus. Darunter sind Unternehmen und Organisationen wie Volkswagen, Thyssen Krupp, Siemens, Daimler, Panasonic, und das Goethe Institut. Auch Unternehmen und Start-Ups, die nach Fairtrade-Standards handeln, kooperieren mit Behindertenwerkstätten. Selbst GEPA, der größte europäische Importeur fair gehandelter Lebensmittel und Handwerksprodukte aus den südlichen Ländern der Welt, ist mit dabei. Die Palette der angebotenen Leistungen ist groß, divers und von hoher Qualität. Diese werden nicht selten auch seitens der Behindertenwerkstätten beworben. Die Behindertenwerkstätten arbeiten wirtschaftlich orientiert und konkurrieren längst mit anderen Billiglohn-Anbietern aus dem Ausland. Aufträge müssen dementsprechend effizient und pünktlich abgearbeitet werden. Arbeitstage von acht Stunden, Akkordarbeit, stumpfsinnige Fließbandarbeit und Termindruck gehören häufig zum Arbeitsalltag in einer WfbM.
Interesse: Alles beim Alten lassen
Werkstattbeschäftigte tauchen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Die Vermutung liegt nahe, dass staatliche Institutionen ein deutliches Interesse daran haben, dass dies so bleibt. Denn Menschen mit Behinderungen außerhalb von Behindertenwerkstätten suchen im Schnitt doppelt so lange nach Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Menschen ohne Behinderungen. Generell sind staatliche Institutionen stark mit Behindertenwerkstätten verwoben. So sind viele Bundesländer Gesellschafter bei ihnen ansässigen Behindertenwerkstätten oder betreiben diese direkt selbst. Staatliche Leistungsträger zahlen den Behindertenwerkstätten jährlich im Durchschnitt 16.592 Euro pro beschäftigter Person.
Zusätzlich wird von staatlicher Seite auch die Grundsicherung der Beschäftigten gezahlt. Von den an die Behindertenwerkstätten gezahlten öffentlichen Gelder fließen laut einer Studie knapp 50 % durch Abgaben, Versicherungen etc. zurück in die öffentliche Hand. Darüber hinaus müssen öffentliche Aufträge nicht, wie sonst, EU-weit ausgeschrieben werden, wenn sie an Behindertenwerkstätten vergeben werden. Des Weiteren dürfen sie teilweise einen verminderten Mehrwertsteuersatz von 7 % auf ihre Leistungen berechnen. Hochgerechnet verschaffen Werkstätten für behinderte Menschen der öffentlichen Hand ein Plus von 400 Millionen Euro.
Es wird also deutlich: Behindertenwerkstätten sind politisch gewollt und entsprechend strukturell etabliert. Gleiches kann über Inklusion in der Arbeitswelt leider nicht behauptet werden.
Die Ausgleichsabgabe
Es gibt eine Beschäftigungsquote für Menschen mit Behinderungen in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes ab 20 Mitarbeiter*innen. Unternehmen müssen mindesten 5 % der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Mitarbeiter*innen besetzen. Allerdings kann diese Beschäftigungspflicht sehr einfach durch eine Ausgleichsabgabe umgangen werden. Diese Abgabe beträgt monatlich zwischen 125 € und 320 € pro unbesetzter Stelle. Unternehmen können darüber hinaus Aufträge, die sie an Behindertenwerkstätten vergeben, zu 50 % auf die Ausgleichsabgabe anrechnen. Ein Anreiz für mehr Inklusion ist die Ausgleichsabgabe also nicht, eher eine Möglichkeit sich freizukaufen.
Paradox an dieser Stelle ist: Aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe ziehen Ämter anteilig Gelder zur Finanzierung von Behindertenwerkstätten und auch zur Förderung von Menschen mit Behinderung. In der finanziellen Planung ist man also darauf angewiesen, dass Unternehmen zu wenig Menschen mit Behinderungen anstellen und somit die Ausgleichsabgabe zahlen müssen.
Fazit
Das System läuft wie ein geöltes Zahnrad. Alles ist aufeinander abgestimmt und miteinander verankert. Um diese lange bestehenden Verbindungen aufzubrechen, reicht es nicht mehr den Veränderungswillen zu bekunden. Menschen mit Behinderungen haben lange genug darauf gewartet, dass ihr Menschenrecht auch im Bereich Arbeit umgesetzt wird. Kampagnen wie der Schichtwechsel, den Berliner Werkstätten jedes Jahr durchführen, erhalten das System. Es reicht nicht, das Werkstattbeschäftigte einen Tag in reguläre Arbeitsplätze “schnuppern” können. Behindertenwerkstätten müssen endlich konsequent an ihrem Hauptauftrag, Werkstattbeschäftigte langfristig in Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen, gemessen werden. Doch für eine Strukturveränderung der Behindertenwerkstätten muss vor allem das (staatliche) Finanzierungssystem angegangen werden. Der Staat kann die Handlungsmöglichkeiten der Behindertenwerkstätten erweitern bzw. sie durch Anreize zur Einhaltung von gesetzlichen Vorgaben drängen.