André Thiel setzt sich seit vielen Jahren für Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein. Außerdem kämpft er auf dem Rechtsweg für eine gerechte Behandlung von Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen. Das JOBinklusive-Team steht seit längerem mit ihm in Kontakt. Wir haben ihn um ein Interview gebeten. 

JOBinklusive: André, du hast eine Ausbildung zur Kaufmännsichen Fachkraft gemacht. Wie war dein Weg dorthin?

André Thiel: Ich bin 1981 in Ludwigslust geboren. Meine ersten Lebensjahre war ich stationär im Kinderkrankenhaus untergebracht. Danach kam ich in ein Kinderheim für geistig- und körperbehinderte Kinder. Hier adoptierte mich eine der damaligen Mitarbeiterinnen und wir zogen nach Halle. In der neuen Heimat besuchte ich eine Schule für körperbehinderte Schüler. Hier erlernte ich neben mehr Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein auch Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerdem bahnte sich eigenes kreatives Denken und selbstbestimmtes Handeln an. Hier lernte ich auch mit Konflikten umzugehen und mich notfalls durchzusetzen oder nach Kompromisse zu suchen. 

Nach der Schule ging ich in ein Berufsbildungswerk in Greifswald. Dort absolvierte ich eine Ausbildung zur kaufmännischen Fachkraft. Hier wurde ich konkret gefördert, es gab Nachhilfeunterricht und therapeutische Angebote. Ich lernte Aufgaben, die im Büro anfallen, zu meistern also z.B. ein Angebot zu formulieren. Als Vorteil dieser Art der Ausbildung in einem Berufsbildungswerk sehe ich die Möglichkeiten der individuellen Förderung. Als Nachteil ist allerdings zu nennen, dass diese Art der Ausbildung nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt angepasst ist. 

Wie verliefen deine Versuche Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden? 

Nach der Ausbildung habe ich verschiedene Maßnahmen absolviert. Aber mein Berufsweg war beschissen, denn ich wurde wie eine Nummer durch die Akten gereicht. Ich fühlte mich zwischendurch nicht gebraucht. Ich habe dann verschiedene Praktika angenommen. Mittlerweile bin ich in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) untergebracht. Dies ist ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus keine Behinderten gebrauchen kann. Ich würde mir eine Tätigkeit als Helfer in der Behindertenarbeit oder als Berater für die Fachkräfte wünschen. 

Wie sieht ein typischer Tag in der Werkstatt für dich aus?

Ich fange früh um neun an und erledige dann meine Aufgaben, die erledigt werden müssen. Die Aufträge aus der freien Wirtschaft müssen sachlich und pünktlich abgearbeitet werden. Zwischendurch wird die Pause zur Mittagsmahlzeit eingehalten. Wo bitte ist hier der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt? Als Besucher, der durch die Werkstatt geht, würde man kaum darauf kommen, dass Angestellte und Beschäftigte der Einrichtung zusammenarbeiten und trotzdem nicht gleichgestellt sind.

Auf den Websites von WfbM werden Menschen gezeigt, die Freude an ihrer Arbeit haben. Wie schätzt du die Stimmung in deiner Werkstatt ein?

Was ist denn zu erwarten, wenn 70 % der Beschäftigten eine geistige und Mehrfachbehinderung aufweisen und keine andere wirkliche Alternative angeboten wird, als das jetzige System der WfbM? Viele Menschen dort sind beeinflussbar, wie schön sie es doch als Beschäftigten dort hätten.

Wie würde dein Arbeitsleben aussehen, wenn du frei darüber entscheiden könntest?

Das System der WfbM muss dringend reformiert werden. Sollen diese Einrichtungen als Rehabilitationseinrichtung oder als Dienstleister geführt werden? Beides passt in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht zusammen. Seit wann dauert eine Rehabilitation der Beschäftigten mehr als drei Jahre? Warum werden die Beschäftigten der WfbM in Form eines Taschengeldes vergütet? Teilhabe am Arbeitsleben heißt nicht nur, dass man einer Struktur im Alltag nachgehen kann. Sondern, dass niemand auf eine Grundsicherung angewiesen sein sollte. Das System der Fürsorge ist menschenverachtend und widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention.

Was muss sich für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf Arbeit ändern? 

Gleiche Verpflichtungen und Rechte im Arbeitsleben für alle Menschen. Ganz egal, ob man behindert ist. Wer behindert ist, braucht keinen Betreuer am Arbeitsplatz, sondern eine Assistenz an seiner Seite. 

Was rätst du jungen Menschen mit Behinderungen, die die Empfehlung “Werkstatt” bekommen?

Jeder junge Mensch sollte versuchen, einen Schulabschluss zu erlangen. Egal, ob der Abschluss durch Unterstützung erreicht wird. Mindestens einen Hauptschulabschluss. Sollte nach der Schullaufbahn eine Ausbildung abgeschlossen werden, müssen die Arbeitgeber verpflichtet werden, Schwerbehinderte einzustellen. Tun sie dies nicht, sollten die Lebenshaltungskosten der Menschen von der freien Wirtschaft übernommen werden. Warum soll es der Steuerzahler finanzieren? Der Gang in die WfbM sollte das allerletzte Mittel sein.

Du hattest vor mit einer Klage gegen deine Werkstatt bis vor das Bundesverfassungs-gericht zu gehen. Worum ging es in der Klage?

 

Mit einer Klage wollte ich erreichen, das Beschäftigte dort gleichgestellt werden, wie die Angestellten der Einrichtungen. Nämlich als volle Arbeitnehmer. Bis zum BAG Erfurt bin ich gescheitert, weil ich den Werkstattvertrag unterschrieben habe und somit der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn ausgehebelt wurde. Eigentlich wollte ich in diesem Jahr noch vor das Bundesverfassungsgericht gehen. Leider ist der Anwalt, der mit mir zusammen dorthin gehen wollte, verstorben. Andere Anwälte zeigten sich daran kaum interessiert. Außerdem sind die Kosten dafür nicht gedeckt. Am Ende habe ich für mich entschieden, diesen Weg nicht zu gehen. Ich habe bald die 20 Beitragsjahre für die Deutsche Rentenversicherung erfüllt und kann somit ab April 2021 die Erwerbsminderungsrente bekommen. 

Was möchtest du den Menschen sagen, die meinen, der allgemeine Arbeitsmarkt wäre zu hart für viele Menschen mit Behinderungen?

 

Ob der erste Arbeitsmarkt für behinderte Menschen zu hart ist, hängt immer davon ab, wie doll man behindert ist und welche Aufgaben man erfüllen kann. Allgemein ist der erste Arbeitsmarkt eine Ausbeutung der Beschäftigten, weil er nicht sozial ist. Leider steht das Kapital immer vor den Menschenrechten.  

Möchtest du uns sonst noch etwas erzählen?

Das System der Werkstätten hat weder mit Rehabilitation noch mit der Teilhabe am Arbeitsleben zu tun. Letztendlich geht es darum, dass diese Personengruppen tagsüber betreut werden. Aber dafür braucht es keine Werkstätten für behinderte Menschen.