Für mich ging es von der Schule direkt an die Uni. Ich machte mein Abitur an einem Berufskolleg für Blinde und Sehbehinderte. Das war nicht optimal, aber neben der Regelschule auf dem Land ohne Infrastruktur oder dem 300 km entfernten Internat immer noch die erträglichste Option. Danach wollte ich „irgendwas mit Menschen“ machen. Nach einem Jahr Erziehungswissenschaft-Leistungskurs rückte ich dann doch etwas von der Idee ab, einen sozialen Beruf auszuüben, zumal man uns immer wieder einschärfte, wir könnten die meisten pädagogischen Berufe wegen der Aufsichtspflicht sowieso nicht machen. Also vielleicht doch was mit Musik? Oder mit Sprache? In jedem Fall keinen klassischen Bürojob. Ich wäre nach dem Abitur die ideale Kandidatin für ein Freiwilliges Jahr (FJ) gewesen.

Abi und dann?

Natürlich sprachen die Lehrer*innen mit uns über die Zeit nach dem Abitur. Gefühlt gab es aber nur zwei Optionen: Uni oder Ausbildung, am besten natürlich im nebenan gelegenen Berufsbildungswerk. Und wenn an die Uni, dann unbedingt mit Härtefallantrag. Das sei sehr praktisch, denn dann müssten wir uns nämlich keine Gedanken über die Abiturnote machen und könnten sofort studieren, ohne eine Wartezeit überbrücken zu müssen. Wir hatten einen ganzen Workshop dazu, wie man einen solchen Antrag schreibt. In der Begründung sollte stehen, dass wir aufgrund unserer Behinderung keinen Freiwilligendienst leisten könnten, da die Kosten für Arbeitsassistenz und Hilfsmittel nicht vom Kostenträger übernommen würden. Daher sei eine längere Wartezeit unzumutbar. Weiter wurde das Thema Freiwilligendienst damals nicht besprochen und ich zog es darum auch nicht groß in Erwägung. Ich bewarb mich an unterschiedlichen Unis für unterschiedliche Studiengänge, von Musikwissenschaften über Soziologie bis zur Rehabilitationspädagogik, wofür ich dann schließlich auch angenommen wurde.

Die erste Zeit nach dem Abi war ein einziges Desaster. Das Studium war zwar interessant, aber ich wusste sehr schnell, dass es nicht das richtige für mich ist. Die Erzählungen meiner Kommiliton*innen über ihr Auslandsjahr oder ihre Freiwilligendienste bestärkten mich in der Entscheidung, erstmal eine Auszeit zu nehmen. Ich informierte mich über Alternativen, ging zur Berufsberatung und zog schließlich zu Freund*innen nach Berlin, wo ich die Aussicht auf eine Ausbildung im Bereich Sounddesign hatte. Diese scheiterte schließlich an der Finanzierung und ich ging wieder an die Uni, diesmal um Lehramt zu studieren. Rückblickend war es eine schöne Zeit mit spannenden Seminaren und tollen Kommiliton*innen und Dozierenden, aber es fühlte sich so an, als würde ich nur dort sitzen, um „nicht nichts“ zu machen, und das ist wahrscheinlich nicht die beste Motivation für den Lehrberuf. 

Einfach mal machen 

Kurzer Zeitsprung: Inzwischen ist es Juni 2020, und ich befinde mich am Ende meines zweiten Semesters. Ich sitze vor einer Hausarbeit über Moralentwicklung und scrolle etwas frustriert durch meinen Twitter-Feed, als mir ein Beitrag der Sozialheld*innen ins Auge fällt. Es ist eine Ausschreibung für eine FJ-Stelle. Aufgaben: Unterstützung bei der Öffentlichkeitsarbeit, Texte verfassen, Mitarbeit bei Seminaren und kleinere Bürotätigkeiten. Trägerin ist das FJ Beteiligung, ein Programm des Demokratie & Dialog e.V., dass sich an engagierte, junge Menschen richtet.

Ich kenne bereits einige Projekte der Sozialheld*innen und auch die Aufgaben sprechen mich an. Schließlich habe ich Spaß an Kommunikation und Social Media und bin darüber hinaus Expertin in eigener Sache. Dennoch zögere ich erst einmal mit der Bewerbung. Wer will schon eine blinde, zweifache Studienabbrecherin? Am Ende schicke ich die Bewerbung dann aber doch los, frei nach dem Motto der Sozialheld*innen „einfach mal machen“. Mehr als mich ablehnen können sie ja nicht. 

Der Bewerbungsprozess beim FJB ist unkompliziert. Bewerber*innen müssen ein Motivationsschreiben und den Lebenslauf einreichen und angeben, für welche der knapp 30 Einsatzstellen sie sich interessieren. Als präferierte Stellen gebe ich die Sozialheld*innen und eine Schule an. Meine Blindheit erwähne ich in einem Nebensatz, schließlich will ich sie nicht verschweigen, aber auch nicht in den Vordergrund stellen. Nun heißt es warten.

Zusage und Vorbereitung 

Bereits zwei Tage später bekomme ich bescheid, dass meine Bewerbung an die Sozialheld*innen weitergeleitet wurde. Eine Woche später folgt die Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Es ist das erste Vorstellungsgespräch meines Lebens und ich bin unfassbar aufgeregt. Da es recht spontan stattfindet gibt es niemanden, die*der mir vorher Feedback zu meinem Outfit, meiner Körperhaltung oder meiner Mimik geben kann. Also orientiere ich mich an Ratgebern aus dem Internet und fahre damit scheinbar gar nicht so schlecht:  Zwei Wochen später habe ich die Zusage für die Stelle.

 Von der Zusage bis zum Arbeitsbeginn sind es vier Wochen, die ich nutze, um mich so gut wie möglich vorzubereiten. Ich schaue mir den Weg von meiner Wohnung zum Büro an und recherchiere zum Thema Hilfsmittelausstattung im Freiwilligendienst. Oder besser gesagt, ich versuche zu recherchieren. Sucht man bei Google beispielsweise nach „Freiwilligendienst mit Behinderung“ erhält man sehr viel Information über die Arbeit mit, aber nicht von behinderten Menschen. Dabei benötige ich  gar nicht so viel an Hilfsmitteln. Einen Laptop bekomme ich zum Glück von den Sozialheld*innen gestellt. Damit kann ich erst einmal arbeiten. Allerdings brauche ich eine sogenannte Braillezeile, die mir den Bildschirminhalt in Blindenschrift anzeigt. Vor allem beim Schreiben von Texten ist das essentiell. Nun kostet so ein Gerät etwa 4000 bis 5000 € und so richtig fühlt sich kein Amt zuständig. Also starte ich vorerst mit einem Leihgerät und hoffe, dass es mich nicht im Stich lässt.

Glücklich mit der Entscheidung 

Kurz vor Beginn des Freiwilligen Jahres ruft mich meine Ansprechpartnerin vom Demokratie & Dialog e.V. an, um mit mir letzte Details zu besprechen. Das Jahr beginnt mit einem Willkommensseminar für alle Freiwilligen aus dem Programm. Ich erkläre ihr, wie ich am Computer arbeite und dass es super wäre, wenn ich Informations- und Arbeitsblätter digital bekäme, dass ich sie mir zur Not aber auch einscannen könnte. Sie sagt das sei gar kein Problem und tatsächlich erhalte ich kurze Zeit später alle Dokumente in für mich lesbarer Form.

Nun arbeite ich schon seit zwei Monaten bei den Sozialheld*innen und bin super glücklich mit der Entscheidung für das Freiwillige Jahr. Ich habe nette und geduldige Kolleg*innen, von denen ich jetzt schon viel lernen konnte, und auch meine Einstellung zu mir und meiner Behinderung hat sich in den letzten Wochen verändert. Ich sehe sie nicht mehr nur als eigenes Defizit und lerne, Dinge einzufordern, die mir zustehen. Dazu gehört auch Barrierefreiheit. Deshalb bestand eine meiner ersten Aufgaben darin, die Online-Tools, mit denen wir arbeiten, auf Barrierefreiheit zu checken. Ich schrieb also auf, wie ich arbeite, mit welchen Tricks ich die Barrieren einzelner Tools umgehe und was gar nicht funktioniert. Im nächsten Schritt werde ich Feedback an einzelne Hersteller mit Verbesserungsvorschlägen formulieren. Das hilft nicht nur mir, sondern hoffentlich auch zukünftigen Mitarbeiter*innen im Social Media-Bereich oder im Projektmanagement.

Ein wichtiger Teil des FJ sind auch regelmäßige Seminare. Etwa einmal im Monat treffen sich alle Freiwilligen, um sich über ihre Arbeit in den Einsatzstellen auszutauschen und sich zu ganz unterschiedlichen Themen wie Demokratie und Kommunikation fortzubilden. Auch hier konnte ich schon viel mitnehmen und freue mich, Teil einer sehr offenen und sich selbst reflektierenden Gruppe sein zu können. 

Ich kann nur alle Menschen mit Behinderung, die darüber nachdenken, ein Freiwilliges Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst zu machen, ermutigen es zu tun. Es ist eine tolle Möglichkeit euch auszuprobieren und eure Stärken und Schwächen zu entdecken, ganz ohne die Personen, die euch einschränken und euch erzählen wollen, was alles nicht geht. Ich möchte gar nicht verschweigen, dass es Probleme geben kann, dass man damit nicht reich wird und vielleicht manchmal etwas improvisieren muss. Aber das ist okay, auch Menschen mit Behinderung dürfen scheitern.

Ganz normale Kolleg*innen 

Potentiellen Arbeitgeber*innen, egal ob im Freiwilligendienst oder in einem klassischen Arbeitsverhältnis, kann ich ebenfalls nur raten, nicht vor blinden und sehbehinderten Bewerber*innen zurück zu schrecken. Ich bin kein Fan von Behauptungen wie „Menschen mit Behinderung sind viel empathischer“ oder „Blinde haben ein besonders gutes Gedächtnis“. Jede*r von uns hat individuelle Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Ich bin beispielsweise extrem gut darin, mir vergangene und zukünftige Termine zu merken, dafür aber ganz schlecht in Mathematik. Ich würde behaupten, dass wir schon früh gelernt haben, unsere Fähigkeiten einzuschätzen und zu nutzen. Einige mussten bereits früh ihre Durchsetzungsfähigkeit trainieren, gegen Krankenkassen, Ämter und häufig auch gegen das eigene Umfeld. Diese Fähigkeit kann ein Team voranbringen. Gerade bei der Arbeit mit Jugendlichen denke ich außerdem an die Vorbildfunktion, die man damit einnehmen kann. Ich hatte in meiner Schullaufbahn mehrere blinde Lehrer*innen und habe das als sehr bereichernd wahrgenommen. Sie haben mir vorgelebt, was möglich ist. Aber auch nicht-behinderte Menschen können natürlich viel von Mitarbeiter*innen mit Behinderung mitnehmen. Zum Beispiel, wie Barrieren im Alltag, die ihnen vorher gar nicht aufgefallen sind, beseitigt werden können. Und letztendlich die Erkenntnis, dass wir ganz normale Kolleg*innen sind.

Foto: Marie Lampe vor dem Büro der Sozialheld*innen| Andi Weiland