Barrierefreiheit ist ein im Zuge von Inklusion und Diversität oft genutzter Begriff, der in der Regel verknüpft wird mit Aufzügen am Bahnsteig, rollstuhlgerechten Rampen oder leicht lesbaren Homepages. Was aber bedeutet Barrierefreiheit für nicht sichtbare psychische und seelische Behinderungen? Dazu gibt es hierzulande keine einzige gültige Definition. Für Autist*innen hat das weitreichende Konsequenzen, auch im Zusammenhang mit Arbeit und dem Zugang zum Arbeitsmarkt: Trotz entsprechender Qualifikationen sind Schätzungen zufolge bis zu 50% aller erwachsenen Autist*innen in Deutschland arbeitslos. Das ist fast jede*r zweite.
Wenn es um das Thema Autismus geht, so herrscht auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor große Sprachlosigkeit. Und tatsächlich scheint eines der Grundprobleme das fehlende Wissen über die Bedingungen zu sein, die vorliegen müssen, damit autistische Menschen ihre Leistungsfähigkeit und Qualifikation gleichwertig präsentieren können. Weil Autismus sich so vielgestaltig zeigt, kann auch dieser Artikel nicht für alle Autist*innen geschrieben sein. Die Empfehlungen für barrierefreie Bewerbungsbedingungen entstammen der täglichen Praxis und gelten in der Summe für die meisten Autist*innen zwischen 17 und 25 Jahren auf der Suche nach Praktika- und Ausbildungsplätzen. Und als erfreulicher Nebeneffekt profitieren auch nicht-autistische Bewerber*innen in vielen Fällen davon, wenn barrierefreie Bewerbungsbedingungen umgesetzt werden.
Die Stellenanzeige: Bereits vorab Vertrauen schaffen
Standardisierte Stellenanzeigen weisen bereits im Anzeigentext Anforderungen auf, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für Autist*innen nicht oder nur teilweise erfüllbar sind: Teamfähigkeit, Kundenorientierung, Erfahrung mit Präsentationen und Moderation, ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten, Flexibilität, Spontanität, Stressresistenz – das sind nur einige Beispiele. Die wenigsten Personaler*innen fragen sich vermutlich, ob die genannten Skills für den Job wirklich notwendig sind. Eine Stellenanzeige, die sachlich, faktisch und auf Inhalte bezogen formuliert ist, fällt auf – vor allem einem autistischen Menschen. Und das Unternehmen schafft bereits zu diesem Zeitpunkt Vertrauen in die Firmenkultur.
Die Bewerbung: Sag ich’s oder sag ich’s nicht?
Im Anschreiben auf das Thema Autismus hinweisen oder lieber Stillschweigen bewahren? Das ist eine Gretchenfrage. Sicher können sich Bewerber*innen nie sein, was erfolgversprechender sein wird. Auch lässt sich arbeitgeberseitig keine Tendenz zu mehr positiver oder negativer Resonanz erkennen. Erfahrungsgemäß schafft frühzeitige Transparenz mehr Offenheit und verbessert damit langfristig die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter*innen. Letztlich müssen die Bewerber*innen selbst entscheiden, vielleicht orientiert an den eigenen Stärken und Bedürfnissen, im Sinne der Variabilität von Autismus. Mittel- bis langfristig haben Unternehmen eher eine Chance, Dinge richtig zu machen, wenn Hintergründe offen und transparent kommuniziert werden.
Das Vorstellungsgespräch: Ein Buch mit mindestens sieben Siegeln
Das Vorstellungsgespräch ist für die meisten autistischen Bewerber*innen das größte Hindernis. Vielen gelingt es besser, sich schriftlich auszudrücken, so dass Bewerbungen oft erst einmal auf positive Resonanz stoßen. Dann folgt der Termin, an dem der autistische Mensch all das tun soll, was nicht oder nicht so gut gelingt: Etikette befolgen, Blickkontakt halten, Hierarchien und Höflichkeitsfloskeln kennen, aufmerksam dem Gespräch folgen, schlagfertige und zügige Antworten geben, Stärken hervorstellen, Schwächen nicht zu sehr betonen, zwischen den Zeilen lesen, fremden Menschen gegenüber sitzen, sich sowohl geografisch als auch sozial auf unbekanntes Terrain einlassen, Fallstricke erkennen, eloquent, authentisch und redegewandt wirken – kurzum: das Spiel mitspielen. Es wird autistischen Bewerber*innen in einer solchen Situation höchstwahrscheinlich fast unmöglich sein, das zu präsentieren, was sie für den Job qualifiziert.
Dabei können Veränderungen ganz einfach umgesetzt werden, wie die folgenden Vorschläge zeigen:
- Autistischen Bewerber*innen sollten vorab per Mail (zusätzlich zu Zeit- und Raumangaben) Angaben zu teilnehmenden Personen und ggf. auf sie zukommenden Fragen und/oder Aufgaben geschickt werden. Idealerweise enthält die Mail die Einladung, eine Vertrauensperson mitzubringen; diese kann im Gespräch als Übersetzerin dienen (Fragen präzisieren, Kontext herstellen) und ist potentiell für alle Seiten von erheblichem Vorteil.
- Auf Smalltalk sollte unbedingt verzichtet werden. In den Augen vieler autistischer Bewerber*innen ist das bestenfalls Zeitverschwendung und schlimmstenfalls stressig.
- Eingangsfragen sollten präzise formuliert werden: „Möchten Sie Kaffee, Wasser oder nichts trinken?“, „Ist der Raum hell genug/zu hell?“ oder „Ist es hier leise genug?“
- Idealerweise wissen die Bewerber*innen schon, wem sie gegenüber sitzen werden. Sofern das nicht vorher feststand sollten Namensschilder getragen oder auf dem Tisch platziert werden.
- Die klassischen Aufforderungen „Erzählen Sie uns etwas über sich“ oder “Beschreiben Sie Ihren Werdegang” sollten durch konkret auf den Job bezogene Fragen ersetzt werden (persönliche Angaben wurden bereits im Lebenslauf gemacht; wenn dieser vorab von allen Beteiligten gelesen wurde, erübrigt sich aus Bewerbersicht das erneute Abfragen). Ideal sind Fragen wie: „Was macht Ihnen am meisten Spaß in diesem Beruf?“ oder „Warum arbeiten Sie gerne mit diesem oder jenem Material?“. Fragen nach Beispielen sind von Vorteil („Wie haben Sie diese oder jene Aufgabe in Ihrem vorherigen Job gelöst?“). Hypothetische Fragen („Was wäre, wenn..“) sowie Fragen, die Dritte involvieren (“Was glauben Sie, was unsere Kundschaft von Ihnen erwartet?”), sind zu vermeiden.
- Die Interviewer*innen sollten autistische Bewerber*innen durch das Gespräch führen. Zu lange oder abschweifende Antworten können freundlich unterbrochen werden (“Sie haben Ihren Punkt deutlich gemacht, wir wollen jetzt nochmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen.”). Bei kurzen oder einsilbigen Antworten sollte gezielt nachgefragt werden (“Wie genau meinen Sie das? In welchem Bereich waren Sie tätig? Was genau haben Sie dort gemacht?”). Für Antworten sollte den Bewerber*innen genug Zeit gegeben werden. Dabei entstehende Gesprächspausen sollten einfach abgewartet werden, sie sind ganz normal.
- Das Ende des Gespräches sollte deutlich signalisiert (Aufstehen, den Stuhl zurückschieben, die Mappe zuklappen) sowie formuliert werden („Vielen Dank, das Gespräch ist jetzt zu Ende“). Es sollten konkrete Angaben dazu gemacht werden, wann eine (bevorzugt schriftliche) Rückmeldung erfolgt („Wir besprechen uns und melden uns am Freitag bis 12 Uhr per Mail bei Ihnen“).
Probearbeiten: Endlich zeigen was man kann
Eine Arbeitsprobe scheint in den allermeisten Fällen der beste Weg, autistische Bewerber*innen bezüglich der Job-Anforderungen zu überprüfen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Bewerber*innen können ihre Stärken darstellen, die vielleicht noch nicht einmal etwas mit ihrer Behinderung zu tun haben. Oder sie haben gerade doch mit der Behinderung zu tun, dann wäre es ihnen nur schwerlich möglich, sie im Gespräch sichtbar zu machen. Die Bewertung einer Arbeitsprobe wäre fair im Vergleich zur Bewertung eines Vorstellungsgespräches, sozusagen ein Nachteilsausgleich gegenüber neurotypischen (also nicht-autistischen) Menschen.
Dabei kann eine Arbeitsprobe das Vorstellungsgespräch auch ersetzen und muss in der Organisation nicht aufwendiger sein. Vorab können präzise formulierte Aufgaben per Mail versandt und der Bedarf an zusätzlichen Hilfs- oder Arbeitsmitteln (Taschenrechner, Stoppuhr, Lärmschutzkopfhörer etc.) geklärt werden; oft können die Bewerber*innen diese Dinge auch mitbringen. Idealerweise findet die Arbeitsprobe am späteren Arbeitsplatz statt; so kann dieser gleich auf seine Tauglichkeit getestet und ggf. nachgerüstet werden (Licht, Lärmbelästigung, etc.). Arbeitsproben können auf unterschiedliche Zeiten und/oder Tage gelegt werden, falls nicht alle Entscheidungsträger zu einem Termin anwesend sein können; den Bewerber*innen käme das bezüglich Konzentrationsfähigkeit und Stressreduktion möglicherweise auch entgegen. In die Bewertung der Arbeitsprobe und die Entscheidungsfindung sollten vor allem die direkten Vorgesetzten sowie die Kolleg*innen der künftigen autistischen Mitarbeiter*innen eingebunden werden.
Aus den angestellten Überlegungen wird eines deutlich: Die Bedingungen, unter denen sich Autist*innen bestmöglich auf dem Arbeitsmarkt präsentieren können, hängen ganz entscheidend von der Bereitschaft der Unternehmen ab, sich auf Veränderungen standardisierter Abläufe einzulassen. Dann können die unzähligen Stärken autistischer Bewerber*innen im Sinne moderner, inklusiver Personalpolitik erfolgreich im eigenen Unternehmen eingesetzt werden.
Zur Autorin
Magdalena Rümenap arbeitet in Göttingen als Case Managerin und systemische Beraterin in der beruflichen Rehabilitation von jungen Menschen mit seelischen und psychischen Behinderungen. Der Hauptteil ihrer Klient*innen sind Autist*innen. Am ifas Institut für angewandte Sozialfragen werden die Klient*innen in 12 Berufen ausgebildet bzw. in ihrer betrieblichen Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt unterstützt.
Foto: Anna Spindelndreier | www.annaspindelndreier.de I Gesellschaftsbilder.de