Judit Nothdurft ist Expertin rund um Hörbehinderung und Gehörlosigkeit. Als selbstständige Beraterin und Dozentin gibt sie Beratungen, Inhouse-Schulungen, Workshops und Vorträge. Wir haben mit ihr vor allem über die Inklusion von hörbehinderten oder gehörlosen Menschen in den Arbeitsmarkt gesprochen.
JOBinklusive: Welche Schulnote würden Sie der Inklusion von hörbehinderten oder gehörlosen Menschen in der Arbeitswelt geben?
Judit Nothdurft: Welche Schulnote? Ja, also eine Eins auf keinen Fall. Ich würde sagen, das ist sehr abhängig von den Firmen. Manche können eine Eins mit Stern bekommen, und andere tun da gar nichts. Also ich würde sagen, so in der Mitte. Nehmen wir eine Drei.
Hat sich diese Note, in den vergangenen Jahren, erheblich verändert?
Also sagen wir so: Ich bin seit elf Jahren selbstständig und wenn ich arbeitsplatzmäßig in Kontakt mit Firmen bin, habe ich das Gefühl, da hat sich etwas verbessert. Ich muss weiter ausholen. Ich habe einen erwachsenen gehörlosen Sohn, der von Geburt an gehörlos ist, er ist 35. Und vor 35 Jahren sah die Welt ganz anders aus. Ich habe aber auch einen einseitig schwerhörigen und einseitig gehörlosen Sohn. Der ist eher in der hörenden Welt involviert. Schulisch weiß ich, wie das damals lief und wie das heute aussieht und wie die Akzeptanz ist und die Nachfrage und die Sensibilität. Das hat sich auf jeden Fall verändert. Ich glaube, wir sind auf dem Weg, wo es mit Mini-Schritten, aber irgendwie doch etwas besser wird.
Sie unterrichten Kommunikation und Umgang mit hörbehinderten oder gehörlosen Kolleg*innen…
…mit Schwerhörigen, Gehörlosen. Arbeitsplatztechnisch ist fast immer das Thema: Wie ist die Kommunikation mit gehörlosen Kollegen, denn mit Schwerhörigen kommen die meisten klar. Da gibt’s zwar auch einiges, was die Arbeitgeber berücksichtigen sollten, aber dadurch, dass sich die schwerhörigen Kollegen meistens in der Lautsprache unterhalten, ist die Kommunikation nicht so problematisch, wie bei den Gehörlosen.
Was ist bei diesen Schulungen besonders wichtig?
Also besonders wichtig ist es erstmal die Gehörlosenkultur den hörenden Kollegen und den Chefetagen näherzubringen. Ich möchte sie auf jeden Fall sensibilisieren dafür, dass es eine andere Welt ist. Meistens unterrichte ich eine Woche in einer Firma, wo sie dann Gebärden erlernen können und auch lernen, ohne Gebärdensprachdolmetscher zu kommunizieren. Es geht um das tägliche Miteinander. Zum Beispiel die morgendliche Begrüßung am Arbeitsplatz. Wie begrüße ich den Kollegen, wenn er schon am Schreibtisch sitzt? Wenn ich einfach vorbeigehe und „Hallo“ sage, davon hat er nichts mitbekommen. Leute, ihr müsst Blickkontakt aufnehmen und erst dann werdet ihr wahrgenommen. Und wenn du diesen Blickkontakt hältst, dann kannst du mit dem gehörlosen Kollegen kommunizieren und überhaupt mal normale Kommunikation stattfinden lassen am Arbeitsplatz. Dass man fragt: „Wie geht es dir?“ Oder „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Oder „Hast du gestern Fußball geschaut?“ Also merken, dass gehörlose Menschen genauso sind, wie wir alle. Die können alles, außer hören. Und wenn wir ein bisschen mehr Rücksicht nehmen und wenn wir wissen, wie die Kommunikation geht, dann geschieht so ein „Aha-Effekt“, also „Ah so geht das! Wenn es mir schon jemand vorher so erklärt hätte, hätte ich es schon längst so gemacht.“
Also das ist mein Ziel. Diese Hemmungen abbauen, die Mitmenschen sensibilisieren und Mut machen. „Jawohl, es geht. Ich als Hörende kann auch die Gebärdensprache erlernen und kann mit Gehörlosen kommunizieren. Und wenn du dir ein bisschen Mühe gibst, freuen sie sich riesig und die helfen dir, die zeigen dir noch tausend andere Gebärden, die du noch wissen möchtest.“ Das ist das Ziel. Wir gehen am dritten, vierten Tag des Trainings der hörenden Kollegen zum Arbeitsplatz und versuchen mit dem gehörlosen Kollegen dort ins Gespräch zu kommen. Und da gibt’s manchmal Sachen, wo einem die Tränen kommen. Eine Frau hat gesagt: „Wissen Sie, ich arbeite seit 15 Jahren hier. Noch nie hat sich jemand mit mir so lange unterhalten, wie heute.“ Und die Kollegen, die sagten „Mensch, das geht doch! Schau mal, was sie alles erzählt hat. Hast du das gehört, dass sie eine gehörlose Mutter hat? Und in welcher Schule sie war…“. Das ist wirklich ein unbeschreibliches Erlebnis für alle. Es ist eine Win-Win-Situation.
Gibt es einfache Dinge, die Unternehmen oder Kollegien jetzt direkt ändern können?
Ja, einfache Verhaltensregeln. Dass ich langsam und deutlich artikuliere, dass ich Blickkontakt aufnehme, ich stelle mich nicht in die Lichtquelle, weil dann blendet es und der Kollege kann mich nicht sehen. Ich muss stehenbleiben. Dass ich keine Fremdwörter benutzen, wenn möglich kein Dialekt. Dialekt kann man ganz schlecht ablesen. Das sind so die Basics. Und natürlich „taubstumm“. Der Ausdruck „taubstumm“ existiert nicht. Bitte von der Festplatte löschen. Ich erkläre auch warum. Diese Menschen kannst du entweder gehörlos oder taub nennen. Du kannst aber selber fragen, wie möchten Sie sich gerne nennen lassen? Man natürlich noch fragen „Was ist dein Gebärdenname oder dein Namensgeber?“, also sich einander bisschen näherkommen, bis man auf Augenhöhe ist.
Welche positiven Erfahrungen machen Sie bei Ihren Schulungen?
Es ist natürlich auch erst einmal überhaupt eine positive Erfahrung, wenn ich von einer Firma eingeladen werde, um so eine Schulung zu halten. Dass sie eine Woche ihren Mitarbeitern Zeit geben, dass sie dort 5-6 Stunden sitzen und anschließend zu Hause noch üben können, selbst für sich. Das ist schon eine ganz große Sache, weil das nicht alle Firmen machen. Eine positive Erfahrung ist auch, wenn die Leute sich anstrengen und dann miteinander versuchen zu kommunizieren. Erst einmal denken sie: „Das ist nichts für mich.“ Und dann merken Sie es geht doch! Bei den meisten Leuten geht es am dritten Tag spätestens los und sie fragen die gehörlosen Kolleg*innen: „Und wie gebärden Sie das? Und das…?“ Die möchten noch mehr und mehr wissen. Ich sage dann „Jetzt mal ganz langsam, lernt erst die wichtigsten 100 Wörter und merkt euch die. Das soll bleiben.“ Aber das Interesse ist plötzlich riesig und dann geht’s nach Hause und die Unterlagen bleiben nicht in der Tasche. Sondern: „Ich habe es gestern meinen Kindern gezeigt und die haben mitgebärdet“. Also die geben es dann auch weiter, zu Hause und möchten dort auch diese Welt ein bisschen bekannter machen, in der Familie.
Es gibt auch Kollegen, die sich zwei Jahre später nochmal für den Kurs anmelden, weil die sagen: „Es hat mir damals so viel Spaß gemacht. Aber inzwischen habe ich schon ein paar Worte verlernt. Ich möchte es jetzt nochmal machen“.
Treffen Sie auch auf Abneigung oder Skepsis bei dem Thema?
Skepsis gibt es in den ersten Tagen, wenn die Schulung anfängt und ich sage: „Was wurde ihnen gesagt, was sie jetzt hier lernen?“ …“Ja jetzt lernen wir Gebärden, aber ich weiß gar nicht, ob ich das kann.“ Also die ersten Vormittage sind immer so spannend… und das ist auch wo ich erst mal versuche, denen zu erzählen, warum es wichtig ist, das zu lernen. Wie überhaupt die gehörlose Welt aussieht, die wie diese Gebärdensprache aufgebaut ist. Warum braucht man das? Welche Hilfsmittel gibt es und so langsam werden alle warm und dann gehts los mit Fingeralphabet. Und spätestens, wenn sie ihren Namen gebärden müssen, dann bricht das Eis. Dann kommt dieser Spaßfaktor. Da geht es los, dass sie Spaß haben an der Geschichte. Und dann ist die Skepsis eigentlich weg. Also Ablehnung habe ich noch nie erlebt, muss ich sagen. Die dabei sind, das sind alle Menschen, die gehörlose Kollegen haben und die eigentlich schon lange sich gewünscht haben, mit denen vielleicht 2-3 Wörter mehr sprechen zu können, weil die einfach sympathisch sind. „Es geht nicht, weil ich habe da eine Mauer dazwischen“ …. und auf der Arbeit hat er keine Zeit ständig nachzufragen „wie gebärdest du dies oder das?“
Das heißt, sie machen eher die Erfahrung, dass man einmal den Anstoß geben muss…
….nur ganz wenig und dann läuft es. Also ich habe noch nie wirklich negative Erfahrungen gehabt.
Wenn Sie zwei Dinge an der Arbeitswelt ändern könnten, um diese barrierefreier zu machen, welche wären das?
Also ich kann dazu natürlich auf der Schiene der Gehörlosigkeit und Hörbehinderung etwas sagen, weil es gibt ja X Behinderungen. Davon habe ich keine Ahnung. Ich würde jeder Firma empfehlen, bevor sie Hörbehinderte einstellen, dass sie sich dazu eingehend beraten lassen, von Fachleuten. Die davon wirkliche Ahnung haben. Ich will jetzt nicht gegen die Beratungsstellen sprechen, aber ich habe wirklich Kontakte zu Menschen, die überhaupt keine Ahnung haben von der gehörlosen Welt, von der Gebärdensprache. Die haben Sozialpädagogik studiert und sie arbeiten sich mühsam rein, ja, aber es ist eine andere Geschichte, wenn ich in dieser Welt lebe, dazu enge Kontakte habe. Und es wäre auch wichtig, nicht nur, dass die Kollegen, die direkte Kollegen, Vorgesetzten und die HR-Abteilungen dazu wenigstens an Informationen kommen.
Gibt es sonst noch etwas, was Sie mit uns teilen möchten?
Also wir haben jetzt Corona. Seit über einem Jahr haben wir eine Pandemie und wir haben nach wie vor Pressekonferenzen, wöchentlich und mehrmals, wo kein Gebärdensprachdolmetscher dabei ist. Warum hat zum Beispiel Frau Merkel nicht einen eigenen Gebärdensprachdolmetscher? Herr Spahn hat letzte Woche eine Pressekonferenz gemacht, ohne Dolmetscher, Frau Merkel ohne Dolmetscher. Oder wir haben Dolmetscher, aber die Dolmetscher wird so klein angezeigt, dass ich dazu einen Feldstecher brauche, um den überhaupt zu sehen. Untertitelung ist nirgendwo und wir haben 16 Millionen Hörbehinderte. Wir haben 3,5 Millionen Menschen, die irgendein Hörsystem tragen und das sagt schon, wenn wir ein Hörsystem tragen, haben sie ein Problem beim Hören. Also wäre für sie wichtig, dass Untertitelung da ist. Aber ich habe weder Untertitelung noch Dolmetscher da gesehen. Ich weiß nicht, wie oft ich es noch sagen muss und wann es endlich so weit ist, aber mittlerweile gibt es auch schon automatische Untertitelung, die könnte man einspielen lassen. Auch das funktioniert nicht. Das wäre ja momentan, glaube ich, eine gute Lösung und wichtig für diese Zielgruppe.
Judit Nothdurft ist Expertin rund um Hörbehinderung und Gehörlosigkeit. Neben ihrer Tätigkeit als Beraterin und Dozentin baute sie selbstständig das Portal deafservice.de auf. Hier sind Ansprechpersonen gelistet, die Gebärdensprache können, z.B. Psychologen oder Rechtsanwältinnen. Außerdem erscheinen regelmäßig Interviews und Artikel.
Porträtbild: Heike Beyerlein
Beitragsbild: Andi Weiland | Boehringer Ingelheim, Gesellschaftsbilder.de