“Jeder ist begabt! Aber wenn Du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.” Albert Einstein
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit „Access – Inklusion im Arbeitsleben“ entstanden. Als Pioniere der Inklusionsbewegung in Deutschland blicken sie auf eine lange Erfahrung zurück, wenn es darum geht berufliche Inklusion in den allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen zu ermöglichen. Im Rahmen des Inklusionsprojektes „LAUT“ will das Team Arbeitgebende gezielt über berufliche Inklusion informieren und mehr Unternehmen für Inklusion gewinnen.
Die meisten denken, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder einer sogenannten geistigen Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können und dass für sie ausschließlich eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Frage kommt.
Viele Arbeitsstellen, wie sie derzeit in Unternehmen definiert und angeboten werden, sind auch tatsächlich nicht geeignet. Neben dem eigentlichen Kompetenzfeld, setzen sie einen bestimmten Schul- und Berufsabschluss sowie eine Vielzahl von Fähigkeiten voraus und umfassen meist noch fachfremde Aufgaben. Aber ist es zwingend notwendig, dass die Assistenz der Geschäftsführung die Büropflanzen pflegt? Braucht es einen Akademischen Abschluss, um Akten zu archivieren? Oder medizinisches Fachpersonal, um Patienten zum Untersuchungsraum zu führen?
Stellenprofile neu gedacht
Hohe fachliche Anforderungen und erwartete Vorkenntnisse sowie Erfahrungen machen es schwierig für Menschen mit kognitiven Einschränkungen einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Hinzu kommen bspw. zu lange Arbeitszeiten und der Anspruch an die Bewerber*innen, zeitnah selbstständig arbeiten zu können.
Was ist aber, wenn Stellenprofile neu gedacht werden?
Was ist, wenn nicht in Berufen, sondern in Tätigkeiten gedacht wird?
Wahrscheinlich gibt es in nahezu jedem Job Aufgaben,
- die den Arbeitsfluss des Fachpersonals mindern bzw. stören
- die immer wieder liegen bleiben
- die sich regelmäßig wiederholen
- die viel Zeit binden
- die viele (bezahlte) Überstunden verursachen
- die nicht die Qualifikation des/der Ausführenden benötigen
- die unter Anleitung erlernt werden können
- die mit informell erworbenem Wissen / Fähigkeiten ausgeführt werden können
- die auch ohne Hintergrundwissen erledigt werden können
- die aus dem bisherigen Stellenprofil herausgelöst werden können
Genau hier setzt “Jobcarving” an. Es geht darum, Aufgaben im Unternehmen umzuschichten und so einerseits Fachpersonal mehr Raum für deren Kerntätigkeiten zu geben und andererseits Stellen auf die Fähigkeiten von Personen mit Einschränkungen zuzuschneiden. Die zugeschneiderte Arbeitsstelle wird den individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen des Menschen entsprechend geschaffen und nicht der passende Mensch für die Arbeitsstelle gesucht. Das kann sowohl das Aufgabenfeld, als auch die Arbeitszeiten und -dauer oder auch individuelle Umsetzungsmöglichkeiten betreffen. Gerade in der Einarbeitung, und bei Bedarf auch darüber hinaus, werden in enger Abstimmung zwischen Unternehmen und (potenziellen) Mitarbeiter*innen individuelle Hilfsmittel und Prozesse erarbeitet, damit die Arbeit optimal erledigt werden kann.
Dafür gibt es viele einfache und sehr praktische Beispiele: Kleine Kästchen, die das Abzählen von großen Mengen von Kleinteilen erleichtern, ein Kalender, an dem die Tage bis zum Mindesthaltbarkeitsdatum abgezählt werden können, das Markieren von Regalen mit Wäscheklammern, damit die Mitarbeiterin sich merken kann, an welcher Stelle sie gerade war. Ein positiver Nebeneffekt dieser Lösungen: Instrumente, die sich dabei als erfolgreich herausstellen, können zu allgemeinen Anpassungen und Optimierungen von Unternehmensprozessen führen, die auch anderen Mitarbeiter*innen zugutekommen.
Mit dieser Aufgabe werden Betriebe nicht allein gelassen. Ein Jobcoach begleitet diesen Prozess individuell und wird in der Regel über den Integrationsfachdienst beauftragt und finanziert.
Ziel: Win-Win-Situation
Jobcarving ermöglicht eine Win-Win-Situation für Unternehmen und Beschäftigte: Fachpersonal kann sich dem eigentlichen Aufgabenfeld widmen, es fallen keine unnötigen Überstunden an, der/ die Beschäftigte mit Behinderung wird entsprechend seiner/ ihrer Fähigkeiten eingesetzt und erlebt gesellschaftliche Teilhabe. Aber auch finanzielle Vorteile für beide Seiten sind nicht von der Hand zu weisen: Die Mitarbeiter*innen werden fair entlohnt und können selbstbestimmt ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und auch für das Unternehmen gibt es Einsparungspotenzial zum Beispiel durch den Wegfall der Ausgleichsabgabe und finanzielle Fördermöglichkeiten.
Zu guter Letzt: In Zeiten von Fachkräftemangel ist Jobcarving aktueller denn je. Inklusion und Diversität sowie der Fokus auf den Menschen mit seinen individuellen Fähigkeiten können Unternehmenskultur und -klima maßgeblich bereichern.
Das Umdenken, das Jobcarving erfordert, macht es auch darüber hinaus möglich, unerkannte Potenziale und neue Bewerber*innenpools zu erschließen. Denn auch jenseits des beschriebenen Personenkreises gibt es viele Menschen, die auf Tätigkeitsprofile, jedoch nicht auf detailliert definierte Stellenprofile, passen.
Um Jobcarving in Ihrem Betrieb umzusetzen, gibt es Beratungsangebote durch Jobcoaches, die gemeinsam mit Ihnen auf Suche nach geeigneten Tätigkeitsfeldern in Ihrem Betrieb gehen und Sie bei der Passung zwischen Beschäftigten mit Behinderung und Unternehmen unterstützen können. Neben der Prozessbegleitung, können sie Informationen zu finanziellen Unterstützungsangeboten und Fördermöglichkeiten hinsichtlich Arbeitsplatzgestaltung geben sowie an weiterführende Stellen verweisen.
Tätigkeitsbeispiele
Um das Konzept Jobcarving zu veranschaulichen sind hier einige beispielhafte Aufgaben, die zu einem Stellenprofil zusammengefügt werden können:
- Dateneingabe, Abtippen, Einscannen, Kopieren
- Archivierung
- Unterlagen vorbereiten
- Briefe falten und kuvertieren, Briefe stempeln
- Botengänge
- Empfang, Telefonempfang und Weiterleiten von Telefonaten
- Einkäufe für Mitarbeiter*innen oder im Betrieb benötigtes Verbrauchsmaterial
- Büropflanzen pflegen
- Vorbereitung und Aufräumen von Meetingräumen (Getränke, Gläser, Servietten, Notizblocks etc.)
- Kund*innen zu einem Ort, einer Untersuchung begleiten
- Spülmaschinen ein- und ausräumen
- Reinigen und Befüllen von Kaffeemaschinen
Gecarvte Jobbeispiele aus der Praxis:
- J. bestückt seit 10 Jahren im Supermarkt einen Bereich der Molkereiabteilung und kontrolliert das MHD der Produkte
- D. ist Wohlfühlmanagerin im Büro und erledigt neben der Reinigung Einkäufe und besorgt Mittagessen für das Team, räumt die Spülmaschine aus und gießt die Pflanzen.
- J. ist Helferin in der Archivierung und entlastet damit die Kaufleute in der Bank
- H. ist Bistrohelferin und entlastet die Verkäuferinnen in der FIliale
- F. arbeitet in einer Gärtnerei, topft Pflanzen um, entfernt Unkraut, oder stellt blumige Adventskalender zusammen.
- N. hilft Kindergartenkindern beim An- und Ausziehen, unterstützt beim Essen und spielt mit ihnen.
- N. holt Produkte aus dem Lager, setzt Fahrräder und Roller zusammen, klebt Preisetiketten in einem Spielzeugladen
- A. kommissioniert Bestellungen mit individuellen Hilfsmitteln (bspw. zum Abzählen)
Beitragsbild: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de